Spiritualität und soziale Verantwortung

„Alles ist gut. Alles ist vollkommen.“

Wie ist solch ein Gefühl möglich angesichts des derzeitigen Weltgeschehens? Würde eine Aussage dieser Art in der Öffentlichkeit, in der heutigen Zeit, nicht auf Unverständnis stoßen - in Anbetracht der vielen Naturkatastrophen, Krisen, Krankheiten, Kriege und Hungersnöte? Wirkt eine solche Aussage nicht völlig weltfremd?

Beim Meditieren sitzen wir in Stille, haben die Augen geschlossen, die Aufmerksamkeit ganz nach innen gerichtet. Vielleicht konzentrieren wir uns auf den Atem oder ganz allgemein auf das gegenwärtige, innere Erleben. Dabei tauchen Menschen nicht selten in veränderte Bewusstseinszustände ein, in denen sie von einem Gefühl berührt werden, dass „alles zutiefst in Ordnung ist und dass es nichts zu tun gibt“.

Wundert es da, dass Meditation manchmal als „Nabelschau“ bezeichnet wird? Ist die spirituelle Praxis vielleicht tatsächlich im Grunde egozentrisch oder gar egoistisch“? Wo bleibt da die soziale Verantwortung?

Die Wirkung von Meditation

Es ist wahr, dass wir uns bei einem Retreat zu einer stillen Betrachtung zurückziehen, um den Alltag mit all unseren Rollen, Bezügen und Beziehungen hinter uns zu lassen. Wir nehmen uns Zeit für uns selbst, konzentrieren uns ganz auf die Gegenwart. Von dem Leid in der Welt kriegen wir dabei nichts mehr mit.

Dient solch ein Rückzug nur rein unserem persönlichen Wohl? Oder was bewirken wir, wenn wir meditieren?

Zunächst könnte man anmerken, dass jemand der meditiert und nicht handelt, zumindest keinen Schaden anrichtet. Ganz nach dem Ausspruch von Giovanni: „Die Faulenzer sind die eigentlichen Wohltäter der Menschheit. Denkt daran, wie viel Unheil allein durch Nichtstun verhindert wurde.“ Aber jeder Meditierende weiß, dass das Sitzen über mehrere Tage hinweg während eines Schweigeretreats Körper und Geist sehr in Anspruch nehmen und von Faulheit keine Rede sein kann.

Aber abgesehen von uns selbst, hat sonst noch irgendjemand etwas davon, dass wir meditieren? Hat es eine Wirkung auf unser Umfeld oder auf die Welt?

In der Meditation kommen wir mit der Kraft der Präsenz in Kontakt. Präsenz hat tatsächlich eine Wirkung. In einem Gespräch zum Beispiel ist spürbar, ob jemand beim Zuhören wirklich präsent ist oder nicht. Die Kraft der Präsenz entfaltet hier ihre Wirkung. Ob sie aber über den konkreten Kontakt hinausgeht, ist nicht bewiesen. Die Vorstellung, dass die Meditation selbst eine Kraft auf andere oder das Umfeld entfaltet, ist „magisches Denken“ und entspricht nicht der eigentlichen Absicht von Meditation wie die Lehre des Buddhismus besagt. Der Buddhismus ist frei von magischem Denken und von dem Versuch, andere oder die Welt durch Meditation positiv zu beeinflussen. Ihm geht es darum, unsere wahre Natur zu erkennen und frei zu werden von unseren Identifikationen, Vorstellungen und Vorlieben. Denn diese lassen erzeugen das Leiden in uns.

Meditation ist tatsächlich eine Nabelschau. Sie bietet die Chance, unser Leid durch Selbsterkenntnis zu verringern. Wenn wir weniger leiden, hat sich in der Summe das Leiden in der Welt, zumindest etwas, verringert.

Dies sogar in zweifacher Hinsicht: Wir selbst leiden weniger. Aber auch andere leiden weniger unter uns, da wir weniger projizieren, negative Gefühle nicht ausagieren müssen, weniger urteilen und weniger Vorstellungen, Vorlieben und Ansprüche an andere haben. Wir können besser zuhören, uns besser auf andere beziehen, müssen uns nicht rechtfertigen oder verteidigen, sondern können mehr Mitgefühl empfinden. Ganz konkret in unserem Umfeld verhalten wir uns gelassener, freier, weiser, verständnisvoller, so dass wir weniger Leiden auslösen. Auch das Leiden in anderen können wir tendenziell eher verstehen, so dass diese Menschen sich in ihrem Leiden angenommen fühlen und damit entspannen können.

Im Volksmund heißt es, „wie man in den Wald hineinruft, so schallt es zurück.“ Unsere Haltung und Stimmung ist in einem Gespräch für unser Gegenüber spürbar. Einfach formuliert, könnte man sagen: Offenheit lädt Offenheit ein, dagegen Ego lädt Ego ein. Sind wir gelassen, friedvoll, annehmend und mitfühlend, können andere Menschen sich in unserer Gegenwart auch entspannen und angenommen fühlen. Sie kommen selbst mit diesen Qualitäten in Kontakt. Sind wir dagegen gestresst, ärgerlich, neidisch, urteilen oder ähnliches, ist diese Anspannung für andere spürbar und überträgt sich oder löst Verteidigungsreaktionen aus.

An einem einfachen Beispiel können wir das gut nachvollziehen. Nehmen wir an, jemand macht uns ärgerlich den Vorwurf, dass wir schon wieder zu spät gekommen sind. Wir sind verleitet, uns zu rechtfertigen, spüren Enge oder ähnliches. Strahlt der andere dagegen Gelassenheit und Wohlwollen aus, fühlen wir uns eher verstanden und angenommen, können im Kontakt entspannt sein. Entsprechend der inneren Reaktion beim anderen, spüren wir einmal Enge, das andere Mal Annahme und Weite. Ego hat mit geistiger und körperlicher Enge zu tun. Unser natürliches Wesen dagegen ist weit und kennt keine Eingrenzung.

Daher kann es im Alltag eine spannende und aufschlussreiche spirituelle Übung sein, sich immer wieder zu fragen: Wann handele ich aus einer inneren Enge heraus und welche Wirkung hat das auf mich und auf andere? Und wann handele ich aus einer inneren Weite heraus und welche Wirkung hat diese Haltung?

Meditation ist eine Möglichkeit, in der Persönlichkeit zu reifen und in den eigenen Ansichten weiter, offener zu werden. Egotendenzen werden sich verringern und somit gleichzeitig das Leiden in uns und in unserem Umfeld abnehmen. Das soll nicht heißen, dass das Leiden in uns oder in anderen verschwindet, aber es wird sich nicht mehr durch unser Ego aufschaukeln.

Egal, ob durch Meditation oder andere Reifungsprozesse, immer wenn ein Mensch mehr essentiell handelt, geschieht dadurch mehr Frieden in der Welt. Diese Art von Friedensarbeit hat im besten Sinne eine sozial positive Wirkung. Selbst wenn unsere Motivation zur Meditation egoistisch begründet ist und wir damit bezwecken wollen, dass es uns selbst besser geht, hat dies eine positive Wirkung auf unser Umfeld, zumindest von dem Moment an, wenn unsere Meditation Früchte trägt. Wir wirken sozial positiv, auch wenn dies nicht unsere eigentliche Absicht war.

Verschiedene Motivationen auf dem inneren Weg

Meditierende beginnen aus verschiedenen Motivationen heraus, einen spirituellen Weg zu beschreiten. Es kann sein, dass sie ihre Not verringern möchten oder eine diffuse Sehnsucht und Unerfülltheit sie dazu veranlasst. Im Buddhismus sagt man, „ein bisschen Leiden braucht man“, sonst beginnt man den Weg gar nicht erst zu gehen.

Die anfängliche Motivation könnte man als egoistisch bezeichnen, wenn auch im positiven Sinne. In erster Linie möchte ich mich selbst von meinem Leiden befreien. Dabei denke ich noch nicht unbedingt an andere.

Wenn sich unsere Praxis vertieft und wir Momente erfahren, in denen wir mit innerer Fülle und Freude in Kontakt kommen oder eine tiefe innere Stille oder Präsenz spüren, kann sich unsere Motivation ganz allmählich ändern. Nicht mehr die Not treibt uns an, sondern in dieser Phase wollen wir diese angenehmen Zustände wiederholen. In ihnen finden wir etwas, das wir im Getriebe des Lebens nicht finden. Auch diese Motivation ist noch egoistisch zu nennen. Doch die Wirkung ist für andere meist positiv, wenn wir die Samen der Gelassenheit und des Seins nähren.

Mit der Zeit kann es sein, dass sich unsere Motivation noch einmal verändert:
Wir wollen immer tiefer erkennen, wie die Natur unseres Seins im Innersten ist, wie Leiden eigentlich in uns entsteht und wie wir davon frei werden.
Ab diesem Punkt wird unser Weg zu einer tiefen Wahrheitssuche und ist nicht mehr davon abhängig, ob wir gerade Not fühlen oder nicht.

Die Motivation der Wahrheitssuche, die Motivation tief erkennen zu wollen, ist damit sehr stark und unabhängig. Sie kann uns sehr weit führen auf dem inneren Weg.
Aber auch diese Motivation kümmert sich nicht um das Leiden in der Welt, ist streng genommen auch egoistischer Natur.

Bei dieser Art von Motivation kann passieren, dass wir so beseelt sind von unserer inneren Wahrheitssuche, das wir uns von der äußeren Welt abkehren. Wir haben kein Interesse mehr am Weltgeschehen. Wir lesen keine Zeitung mehr, schauen keine Nachrichten. Wir suchen weniger die Gesellschaft anderer, sondern gehen sehr tief nach innen – einen inneren Weg.

Gerade in dieser Phase wirkt jemand, dessen ganzes Interesse so tief nach innen gerichtet ist, nach außen hin oft unnahbar, egoistisch, unerreichbar. Menschen, die ihm oder ihr nahe stehen, können das Gefühl bekommen, er oder sie sei auf einem Egotrip – so vollkommen in sich gekehrt, abgekapselt und desinteressiert an der Welt. Von sozialer Verantwortung ist nicht viel zu sehen. Während eines solchen Rückzugs wirken Menschen im positiven Sinne nicht oder nur wenig durch ihr Sein in der Welt. Aber vergessen wir nicht, dass es sich nur um eine Phase auf dem inneren Weg handelt. Sie ist wichtig, um bestimmte tiefe Aspekte in der Meditation zu verwirklichen und geht normalerweise auch vorüber.

Die Phase des Rückzugs endet meist, wenn wir immer tiefer unsere wahre Natur erkennen. Dabei sehen und fühlen wir, dass wir nicht getrennt sind. Unsere Selbstgrenzen sind nur eingebildet. Wir spüren tiefer und tiefer die Verbundenheit mit allem. Ist unser Geist freier und offener, ist er gleichzeitig weniger besetzt von Gedanken. Unser Herz öffnet sich und wir spüren Liebe, Mitgefühl, Mitfreude und unbedingte Verbundenheit. Spätestens hier macht Rückzug keinen Sinn mehr, da wir die Welt sind. Plötzlich geht uns alles etwas an. Wir interessieren uns wieder für andere Menschen und auch dafür, was in der Welt geschieht.

Unsere Motivation für den inneren Weg erfährt noch einmal eine grundsätzliche Wende. Wir meditieren nicht mehr vorwiegend aus der Wahrheitsliebe heraus, sondern als Dienst am großen Ganzen. Wir meditieren nicht mehr für uns, für unsere Freiheit von Leiden und unsere persönliche Erkenntnis, sondern für alle Wesen. Innerlich bitten wir: „Möge die Frucht dieses Weges allen Wesen zugute kommen. Mögen alle Wesen glücklich sein und Frieden erfahren.“ Zu diesem Zeitpunkt ist der spirituelle Weg keine rein persönliche Sache mehr, sondern eine altruistische Lebenshaltung, die in all unseren Beziehungen und Handlungen eine Auswirkung haben muss, wenn es sich nicht um ein reines Lippenbekenntnis handelt.

Die Logik des Mitgefühls

Wenn wir erfassen, dass wir nicht getrennt sind, und das nicht nur im Denken, dann hat soziale Verantwortung eine innere Logik, die aus keiner humanistischen Ethik herrührt, sondern spontan und natürlich entsteht. Es ist die gleiche natürliche Logik, die wirkt, wenn wir uns an der Hand verletzen. Wir stellen nicht in Frage, ob wir für sie Sorge tragen müssen. Natürlich kümmern wir uns, da die Hand zu uns gehört. Oder wenn unser Kind in Not ist, werden wir ganz natürlich versuchen, die Not zu lindern, da es zu uns gehört.

Fühlen wir eine tiefe Verbundenheit mit allem, geht uns auch alles etwas an. Wir empfinden ein ganz natürliches Mitgefühl und sind spontan bereit, Not zu lindern, wenn es in unserer Macht steht. Die Erkenntnis von Einssein, von Verbundenheit mit allem ist die ganz natürliche Grundlage für soziale und ökologische Verantwortung. „Verantwortung in Bezogenheit“ könnte man das nennen.

Betrachten wir diese genauer, stellen sich Fragen, wie weit diese Art von Verantwortung geht und ob sie Grenzen hat. Was heißt es genau, Verantwortung in Bezogenheit zu übernehmen? Müssen wir immer und überall versuchen zu helfen bis zur völligen Selbstaufgabe?

Auf diese Fragen gibt es sicherlich keine pauschalen und endgültigen Antworten. Wir können sie uns aber tief im Inneren stellen und sie mit Bewusstheit anreichern.

Betrachten wir die erste Frage: hat unsere Verantwortung in Bezogenheit Grenzen?

Natürlich nicht. Wenn unsere Bezogenheit alles beinhaltet und grenzenlos ist, wie könnte unsere Verantwortung begrenzt sein? Wir befinden uns in einer grenzen-losen Mitverantwortung, zum Beispiel, was das Leiden in unserer Umgebung betrifft, aber auch die ökologische Verschmutzung, die Staatsverschuldung oder den Hunger und die Kriege in der Welt.

Dabei sollten wir aber beachten, dass es sich um eine Mitverantwortung handelt und nicht um eine, die uns ganz allein obliegt. Alleinige Verantwortung könnte uns dazu verleiten, dass wir uns zu wichtig nehmen oder uns überfordert fühlen.

Unsere erste Verantwortung bezieht sich auch nicht darauf, was wir tun, sondern ob wir uns mit einem offenen Herzen auf das, was ist, beziehen.

Zuhören ist die wesentlichste spirituelle Grundhaltung. Zuhören mit offenem Herzen üben und praktizieren wir in der Meditation. Genauso hoffentlich auch mit unseren Partnern, Kindern und Nachbarn, mit den Migranten in unserer Gesellschaft, mit den Hungernden in Afrika, mit den Leidenden in Kriegen, mit der Natur, mit den Bäumen und Tieren. Wirklich offen Zuhören ist der zentrale Punkt im Hinblick auf die Verantwortung in Bezogenheit. Sie führt uns automatisch in ein tieferes Verständnis der Dinge. Aus diesem Verständnis heraus werden wir dann auch immer wieder handeln und oft auch Leiden vermindern können.

Die Intelligenz der Verantwortung

Unsere Verantwortung ist nicht begrenzt. Aber es gibt mehrere Aspekte, die zu einer „intelligenten Verantwortung“ beitragen können. Stellen wir uns zunächst einige provokative Fragen:

  • Hilft es einem Alkoholiker, wenn ich ihm aus Mitgefühl eine Flasche Schnaps kaufe?
  • Unterstützt es einen Menschen, der gerade am Sterben ist, wenn ich ihn möglichst lange künstlich ernähre?
  • Verringert es das Leiden in der Welt, wenn ich in vollkommener Selbstaufgabe all mein Hab und Gut verkaufe und spende?
  • Dient es dem Weltfrieden, wenn ich aus Protest gegen die Kriegspolitik irgendeines Landes eine Bombe zünde?

In all diesen Fragen sind verschiedene, wesentliche Aspekte verborgen, die zu einer Intelligenz von Verantwortung beitragen.

Fangen wir mit dem ersten Aspekt an:
Hilft es einem Alkoholabhängigen, wenn ich ihm aus Mitgefühl eine Flasche Schnaps kaufe?

Die Antwort lautet: natürlich nicht. Denn das Leiden eines Alkoholabhängigen besteht nicht darin, dass er gerade keine Flasche Schnaps hat, sondern darin, dass er alkoholkrank ist. Wenn wir ihm eine Flasche Schnaps kaufen, unterstützen wir weiterhin seine Sucht. Um wirklich zu helfen, müssen wir tiefer schauen, um zu erkennen, was das eigentliche Leiden ist. Sonst kann es passieren, dass wir aus blindem Mitgefühl heraus, das Leiden letztlich sogar noch unterstützen. Man nennt das Co-Abhängigkeit. Sie kommt gar nicht so selten vor. Dabei erhalten wir ein krankes System aufrecht, weil wir nicht die Klarheit und den Mut haben, unsere Unterstützung der Sucht zu beenden und damit den Leidenden zu konfrontieren. Mitgefühl ohne Klarheit ist folglich nicht nur blind, sondern letztlich sogar schädlich.

Zum zweiten Aspekt:
Unterstützt es einen Menschen, der gerade am Sterben ist, wenn ich ihn möglichst lange künstlich ernähre?

Auch hier lautet die Antwort: Nein. Es gibt natürliche Prozesse, die zwar Leiden beinhalten, aber die wir nicht ändern können und durch unsere Hilfe manchmal sogar verlängern.
Wir müssen also unterscheiden zwischen zweierlei Leiden:
Natürliches Leiden wie Verlust, Tod, Krankheit, körperliche Schmerzen oder Veränderungsprozesse im Leben und hausgemachtes Leiden. Hausgemachtes Leiden ist innerlich und entsteht aus dem Ego, aus unseren Vorstellungen und Widerständen. Um uns wirklich intelligent und mitfühlend beziehen zu können, müssen wir zuallererst zustimmen, dass Leben Leiden beinhaltet.

Dem Leiden zuzustimmen und auch unserer Ohnmacht darin, das ist hier die Herausforderung. Wir können Leiden manchmal lindern, aber auch sehr oft nicht. Auch wenn wir Leiden manchmal lindern können, ändert das nichts an der Grundtatsache, dass Leben leidvoll ist. Bevor wir nicht dem zustimmen, dass es Leiden gibt und nicht unserer Ohnmacht zustimmen, können wir uns nicht wirklich intelligent beziehen.

Helfer, die die eigene Ohnmacht nicht annehmen, nennt man „hilflose Helfer“.
Sie laufen Gefahr, zu helfen, um die eigene Ohnmacht abzuwehren und dabei den anderen in seiner Not zu verfehlen. Zum Beispiel wird ein Ratschlag gegeben, wo ein wirkliches Zuhören und Verstehen viel hilfreicher wäre. Manchmal wird vorschnell und fast panisch geholfen, bevor wir überhaupt ein tieferes Verstehen des eigentlichen Leidens bekommen. Der zweite Aspekt zielt darauf ab, zuerst grundsätzlich dem Leiden und unserer Ohnmacht zuzustimmen, bevor wir handeln.

Die Frage zum dritten Aspekt:
Verringert es das Leiden in der Welt, wenn ich in vollkommener Selbstaufgabe all mein Hab und Gut verkaufe und spende?Oder anders formuliert: Dient es anderen, wenn ich mich aufopfere?

Auch hier muss man letztlich mit einem Nein antworten. Ich bin Teil des Ganzen. Will ich das Leiden verringern, macht es keinen Sinn, wenn ich dabei nicht gut auf mich achte und auf meiner Seite das Leiden zum Beispiel durch unangemessene Entbehrung erhöhe.
Das ist wie ein Masseur, der den anderen massiert und sich dabei so verausgabt oder verrenkt, dass er danach Rückenschmerzen hat. Dieses Handeln ist nicht intelligent, denn dadurch ist nicht wirklich etwas gewonnen, für den Handelnden nicht und auch nicht in größerem Sinne. Sich Aufopfern oder Selbstaufgabe deutet auf keine größere Intelligenz hin und hat letztlich nichts mit Selbstlosigkeit zu tun. Manche Selbstaufopferung ist alles andere als selbstlos. Im Gegenteil, die Person fühlt sich dadurch vielleicht sogar besonders wichtig.

An diesem Punkt können wir vom Christentum lernen. Da heißt es: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Also nicht: Liebe deinen Nächsten und gib dich selbst dabei auf. Jesus geht bei diesem Satz grundsätzlich davon aus, dass wir uns bereits selbst lieben. Das stimmt natürlich nicht immer, aber tendenziell ist es so, dass wir natürlicherweise zunächst gut auf uns schauen. Das ist nicht egoistisch, sondern intelligent. Jeder hat etwas davon, wenn wir Verantwortung und Fürsorge für uns übernehmen. Wenn wir jetzt auch die Verbundenheit und daraus die Verantwortung für andere erkennen, erweitert dies unsere Verantwortung, aber ersetzt nicht die Verantwortung für uns. Es geht nicht um „entweder – oder“, sondern um „sowohl als auch“.

Der letzte Aspekt:
Dient es dem Weltfrieden, wenn ich aus Protest gegen die Kriegspolitik irgendeines Landes eine Bombe zünde?

Natürlich nicht. Zugegeben, dies ist ein extremes Beispiel. Aber der Kern der hier angesprochen wird, ist gar nicht extrem und wird oft unbewusst, aber auch bewusst und mit voller Überzeugung in vielen Situationen gelebt. Wir streben oft etwas Gutes an, ein Ideal. Das Gegenteil davon aber verurteilen, verteufeln, bekämpfen wir, versuchen es ausgrenzen und manchmal versuchen wir sogar, es auszumerzen.

Wir sind mit unseren Werten und Idealen identifiziert und projizieren das Böse auf andere. Wir bekämpfen etwas bei anderen, ohne uns bewusst zu sein, dass das, was wir bekämpfen eigentlich in uns, ein Schattenanteil von uns selbst ist. Aus diesem Grund ist wahrscheinlich Schattenarbeit die wirkungsvollere Friedensarbeit, als auf die Strasse zu gehen und eine Bombe zu zünden. Letztlich geht es darum, dass wir zuerst Frieden und Annahme in uns selbst erfahren und erst dann handeln. Dies bringt mehr Frieden in die Welt als wenn wir immer die Welt und die anderen verändern oder gar verbessern wollen.
Ein Zitat von Eckhart Tolle lautet, „wenn du in einen Spiegel schaust und dir das, was du siehst, nicht gefällt, dann wäre es verrückt von dir, den Spiegel anzugreifen. Doch genau das tust du im Zustand des Nicht-Annehmens. Und wenn du das Spiegelbild angreifst, dann wehrt es sich. Wenn du das Bild dagegen ganz annimmst, ganz gleich wie es ausschaut, wenn du freundlich zu ihm bist, dann kann es nicht unfreundlich zu dir sein. Genauso änderst du die Welt.“

Letztlich geht es darum, dass die Wirkung unserer Handlung nur dann konstruktiv und im Sinne von Einklang sein kann, wenn wir aus der Essenz heraus handeln. Unsere Haltung ist dann annehmend, offen, klar, gegenwärtig, verbunden und gelassen. Wir sind berührbar. Es geht nicht darum, ob wir handeln oder ob wir nicht handeln sollen angesichts des Leidens in der Welt. Die wesentliche Frage ist, aus welcher Haltung heraus, aus welcher inneren Verfassung heraus handeln wir. Sind wir innerlich tief angebunden an die Seinsqualitäten, wird sich in unserem Handeln oder Nicht-Handeln eine natürliche Intelligenz entfalten und wir werden dadurch den Frieden in der Welt nähren.

"Der erste Friede, der Wichtigste, ist der, welcher in die Seelen der Menschen einzieht, wenn sie ihre Verwandtschaft, ihre Harmonie mit dem Universum einsehen und wissen, dass im Mittelpunkt der Welt das große Geheimnis wohnt und dass diese Mitte wirklich überall ist. Sie ist in jedem von uns. Dies ist der wirkliche Friede, alle anderen sind lediglich Spiegelungen davon.
Der zweite Friede ist der, welcher zwischen einzelnen geschlossen wird. Und der Dritte ist der zwischen den Völkern. Doch vor allem sollt ihr sehen, dass es nie Frieden zwischen den Völkern geben kann, wenn nicht der erste Friede vorhanden ist, welcher innerhalb der Menschenseele wohnt."Hehapa Saka – Black Elk

Richard Stiegler

Heilpraktiker, Psychotherapie. Seit 1988 als Psychotherapeut, Kursleiter für Transpersonale Prozessarbeit und Meditationslehrer tätig. Seit 2001 Gründung einer eigenen Schule der transpersonalen Psychologie (SEELEundSEIN) und Leitung von Ausbildungskursen. Buchautor.